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Interview mit Astrid Sy

Der Roman Nenn keine Namen der niederländischen Historikerin Astrid Sy beruht auf wahren Begebenheiten. Er spielt im Amsterdam der 1940er Jahre und berichtet von mutigen jungen Frauen, die jüdische Kinder vor der Deportation retten. Eine Geschichte von Mut, Angst und Hoffnung, von Verzweiflung, Liebe, Freundschaft und Verrat.

Wie wird des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts in den Niederlanden gedacht?

In den Niederlanden wird dem Gedenken beider Ereignisse viel Aufmerksamkeit gewidmet. Im Kalenderjahr gibt es dafür unterschiedliche Tage. Beispielsweise gedenken wir am 5. Mai der Befreiung der Niederlande und am 4. Mai aller Kriegsopfer des Zweiten Weltkriegs, aber auch aller späteren Kriege. Das führt zu wiederkehrenden Diskussionen über den Schwerpunkt dieses Gedenkens und woran wir uns erinnern sollten. Dieser Gedenktag hat nicht nur einen Fokus, er ändert sich stetig und wird ständig hinterfragt. Eine Sache, die am 4. Mai jedoch alle verbindet: Jede*r hält eine Schweigeminute. Im Auto, im Zug, in holländischen Flugzeugen, auf der Straße, überall. Um acht Uhr halten alle an und sind für eine Minute ganz still.
Generell ist das Erinnern an diese Zeit eine sehr nationale Sache. Wir denken daran, dass unser Land besetzt war und dass es viele Opfer gab. Jüdische und nichtjüdische Opfer. Und dann kam der Moment der Befreiung. Es gibt einen wirklichen Zeitpunkt in der Geschichte, an den wir uns erinnern können, über den wir nachdenken und den wir feiern können. Aber er bietet auch Anlass zum Trauern und Gedenken der Opfer. Die nichtdeutsche Sicht ist also eine völlig andere Perspektive. Sie ist in gewisser Weise einfacher, weil das Erinnern bei uns aus Sicht der Opfer geschieht.

Warum sind junge Erwachsene/Jugendliche/Kinder und ihre Rolle zur NS-Zeit oft unsichtbar?

Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht hängt es mit einer, wie ich finde, sehr interessanten Phase der Entwicklung zusammen. In der Zeit zwischen 16 und 25 Jahren verändern wir uns so sehr, wir werden erwachsen. Dieser Übergang vom Kind oder Teenager ins Erwachsenenalter ist geprägt von Komplexität und Komplikationen, Problemen und Extremen. Extremes Glück und extreme Tiefs, extreme Lieben und extreme Freundschaften. Ich empfinde dies als sehr typisch für dieses Alter, aber es ist etwas, das zur Zeit des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts nicht gezeigt wird. Dafür scheint es in der Erinnerungskultur keinen Raum zu geben.

Was wolltest du abgesehen vom Erinnern der Opfer und ihrer Geschichten bewirken?

Geschichte und die Berichte in Geschichtsbüchern fühlen sich immer sehr groß und weit weg an. Wenn man aber darüber nachdenkt, waren es normale Menschen, die sich in bestimmten Situationen so verhalten haben, wie wir es alle getan hätten. So war das auch bei den Mitgliedern der jüdischen und nichtjüdischen studentischen Widerstandsgruppen. Als ich mit ihnen sprach und über sie las, bemerkte ich, dass sie nicht jeden Schritt, den sie unternahmen, überdachten. Sie haben einfach angefangen und geschaut, wo es endet. Das ist etwas, das ich reflektieren wollte. Als ich zum ersten Mal von der Geschichte über die Kinderbetreuung und die Rettung gelesen habe, dachte ich: Wie ist das möglich? Sie waren in meinem Alter. Momentan fühle ich mich für nichts auf dieser Welt gewappnet. Was würde ich tun, wenn ich mitten im Krieg bin und sehe, dass schreckliche Dinge passieren? Ich brauchte das Gefühl, dass sogar Menschen wie ich eine Chance gehabt hätten, so etwas zu tun. Und deshalb musste ich diese furchtlosen Widerstandskämpfer*innen von ihrem Podest holen. Ich musste sie zu uns herunterholen und sie als normale junge Leute zeigen, genau wie ich es bin. Ich denke, manchmal werden Menschen im Widerstand zu heldenhaft dargestellt. Und wie kann man sich dann von ihnen inspirieren lassen, wenn sie keine Menschen sind? In gewisser Weise war das die Botschaft. Das sind keine heroischen Superhelden, sondern normale Menschen in einer wahnsinnigen Situation. Und das könnte jeder*m von uns passieren. Wichtig war mir, allen, aber vor allem jungen Lesenden, das Gefühl zu geben: Das hätte ich sein können.

Wie hast du recherchiert?

Ich traf viele Menschen, die mit dieser Geschichte verbunden sind. Widerstandskämpfer*innen, jüdische Überlebende, untergetauchte Kinder. Ich habe aber auch eine Million Bücher gelesen. Parallel zu diesem Buch habe ich als Filmforscherin für Yad Vashem, das Holocaust-Museum in Israel, gearbeitet. Dafür habe ich viel historisches Filmmaterial über den Krieg gesehen, über das jüdische Leben in den Niederlanden und die Niederlande unter der Besatzung. So wurde diese ganze Welt sichtbar für mich. Wie kleideten sich die Menschen, wie sahen sie aus, wie sah Amsterdam aus, wie lebten die Menschen zu der Zeit? Ich konnte mir alles vorstellen. Das hat wirklich geholfen. Und dann bekam ich den Job als Forscherin für das Holocaust-Museum in Amsterdam, das ich mit aufbauen darf. Meine Aufgabe ist es, verschiedene Installationen im Museum über die lokale Geschichte der Hollandsche Schouwburg, der Kinderkrippe und die Rettungsaktionen zu gestalten. Dafür habe ich viele Karten der Gebäude und der Straßen bekommen. Ich hatte Zugang zu allen Forschungsquellen: Zeugen, Karten, Bücher, Recherchen.

Wie spricht man mit jemandem, der*die so etwas Unvorstellbares durchgemacht hat?

Eigentlich ganz normal. Durch meine Arbeit bin ich es schon gewohnt. Aber ich stelle mir immer vor, ich würde mit meinen Großeltern sprechen. Bei Kaffee und Kuchen zusammensitzen und reden. Ich glaube, vor 50 Jahren wäre es anders gewesen… Je älter sie werden, desto mehr wollen sie darüber reden. Es ist eine Art der Verarbeitung. Sie freuen sich über die Aufmerksamkeit, dass sie jemand ernst nimmt und ihre Geschichte anhört. Die Geschichten von tatsächlichen Augenzeug*innen hören zu können, ist etwas ganz Besonderes.

Brauchen wir einen familiären Bezug zu diesem Teil der Geschichte oder gibt es einen anderen Weg, die Erinnerungskultur zu pflegen?

Ich glaube nicht, dass ein familiärer Bezug nötig ist. In Geschichte geht es um Menschlichkeit. Darum, Entscheidungen zu treffen, Angst zu haben, neugierig zu sein, Zweifel zu haben, einen Krieg zu durchleben. Es gibt so viele Dilemmata und Situationen, die universell und immerwährend sind. Es muss jedes Mal überdacht werden, wie man Geschichte für andere Menschen, für jüngere Menschen oder andere Perspektiven relevant macht. Wir müssen die Zusammenhänge sehen, denn Geschichte wiederholt sich. Wir sind alle menschlich, vergessen leicht und machen schnell die gleichen Fehler. Deswegen ist es wichtig, Geschichte am Leben zu erhalten, darüber nachzudenken und kritisch damit umzugehen. Und dann ist es eigentlich egal, um welchen Teil der Geschichte es sich handelt.

Das Interview wurde von Dana Haufschild auf Englisch geführt und übersetzt.


>> Interview zum Download als PDF

Buchtipp

Astrid Sy

Nenn keine Namen

Amsterdam 1942. Heimlich schmuggeln Rosie, Kaat und die anderen jüdische Kinder aus der Kinderkrippe, um sie vor der drohenden Deportation zu bewahren. Sie bringen sie zu Untertauchadressen im ganzen...

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